Roman Zech Gedanken auf Reisen.

Auf der Suche

A
Montag, bald Mittag, InterCity Richtung Ostschweiz. Der Zug ist erstaunlich gut besetzt. Die Billetkontrolle beisst sich mit ihrer Zange durch die Abteile. Meine beiden Abteilspartner sind ein älteres Ehepaar mit 9-Uhr-Tageskarte und diskutieren, ob in meinem Kaffeebecher wohl ein Ristretto oder ein Espresso drin ist. Freudig kläre ich sie auf: „Espresso, schwarz, ohne Zucker.“

Interessanter wenn voller.
Der junge Mann mit 3-Tages-Schnauz im Abteil nebenan vergnügt sich mit einer amerikanischen Serie die Zeit. Seine Kopfhörer sind undicht. Er lacht zwischendurch laut auf, was aber in einem Hustenanfall endet. Nervös wackelt er mit dem Knie. Offensichtlich ist er (zu) spät dran. Sein Telefon erwacht mit einer rockigen Standardmelodie eines Schweizer Anbieters aus dem Schlummerzustand. Er sei gleich da, habe voll verschlafen, schaffe es aber noch vor dem Mittagessen. „Tschau Chef.“
Die einen Mitreisenden drehen mit den Augen, andere an der Lautstärkeregelung ihrer Kopfhörer.
Kurz vor einem der vielen Ortschaften mit „…wil“ im Namen setzt sich eine hübsche Junge zu ihm ins Abteil. Digital Native, glücklich ob der Steckdose zum Stillen ihrer Digitalbedürfnisse und völlig in den Pixel ihres Smartphones verloren.Er, wie frisch aus dem Winterschlaf erwacht. Jagdinstinkt ON. Mein Drei-Fragezeichen-Beobachtungsinstinkt ebenfalls. Schnell packt er aus seiner Mappe einen Block aus und beginnt zu schreiben. Grossbuchstaben, krackelig, wie ein 2.-Klässler:

HEY SÜSSE …

Keine 30 Sekunden später ist sein „Liebesbrief“ oder vielleicht doch besser Anmachversuch auf ausgerissenem 4mm-Papier aus seinem Ringblock fertig. Er legt ihn auf den Abteiltisch.
Sie, ganz offensichtlich, bereut die Abteilwahl und scheint weiterhin ins Smartphone vertieft, blickt aber eigentlich ganz geschickt drüber hinweg auf den Zettel. Sie ganz cool, unschuldig als wäre nichts. Er auch. Schweigen. Keiner sagt was.

Der ältere Herr, mir gegenüber, raunt zu seiner Frau, für die Situation vielleicht ein bisschen zu laut: „Ou lueg mal, en Liebesbrief“, und macht eine offensichtliche Kopfbewegung auf die andere Seite des Ganges.

„Nächster Halt: Gossau“

Er faltet den Brief zusammen, lässt ihn liegen, steht ungeschickt auf, schlägt sich den Kopf an der Gepäckablage an und geht. Ohne Worte.
Sie bleibt zurück. Macht sich ein Foto vom Zettel, zerknüllt ihn und wirft ihn weg.

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von Roman Zech
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